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Titel
Diabetes. Eine Wissensgeschichte der modernen Medizin 1900–1960


Autor(en)
Falk, Oliver
Erschienen
Göttingen 2023: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
312 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Markus Wahl, Lehrstuhl für Geschichte der Medizin, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Diabetes – eine Diagnose, die das Leben wie viele andere chronische Krankheiten dramatisch verändert. Bis ins 20. Jahrhundert war schwerer Diabetes immer ein Todesurteil. Nach den medizinischen Fortschritten und der Entdeckung von Hormonen während des späten 19. Jahrhunderts bedeutete die erstmalige Gewinnung von Insulin aus der Bauchspeicheldrüse von Hunden im Jahr 1921 schließlich eine Zäsur für die Behandlung von Diabetes. Dieses Ereignis wurde von der medizinischen Profession und Gesellschaft gleichermaßen als positivistisches Beispiel für ein „Wunder“ der neuen Medizin wahrgenommen. In der Medizin- und Wissenschaftsgeschichte haben Autor:innen diese „Wende“ daher häufig als Ausgangspunkt für die Veränderung der Behandlung und des Umgangs mit Diabetes im 20. Jahrhundert hervorgehoben. Oliver Falk präsentiert in seiner Dissertation, die er in ein Buch verwandelt hat, eine andere, differenziertere, komplexere, gut recherchierte und fantastisch geschriebene Geschichte der Diabetesbehandlung. Mit methodischer Finesse kann er die teilweise subtilen, zeitgenössischen Veränderungen seit dem 19. Jahrhundert in den Ärzt:innen-Patient:innen-Beziehungen aufzeigen, die in der Geschichtsschreibung meist als eine von oben nach unten gerichtete, paternalistische Abhängigkeit der Patient:innen von den Expert:innen dargestellt werden.

Falks Buch zielt darauf ab, das erkenntnistheoretische Potenzial im „medical encounter“ zu erhellen, indem er die Interdependenz von Forschung und Therapiealltag herausarbeitet (S. 25). Er will dazu beitragen, die Kluft zwischen den Strängen der Patientengeschichte und der Wissenschaftsgeschichte zu überwinden, indem er die Erfahrungen der Patient:innen mit der Entwicklung von Substanzen und Therapiemethoden verbindet (S. 20f.).1 Dazu nutzt er Primärquellen des berühmten US-amerikanischen Diabetologen Elliott Joslin (1869–1962) und des ebenso bedeutenden deutschen Diabetologen Gerhardt Katsch (1887–1961). Beide waren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wichtige Persönlichkeiten, die die Behandlung von Diabetes und eine „neue“ Art der Arzt-Patient:innen-Beziehung prägten. Oliver Falk vergleicht die USA mit Deutschland, Kanada und dem Vereinigten Königreich und erzählt so eine Geschichte der transnationalen Zusammenarbeit und des Wissenstransfers, wobei er ebenso die Unterschiede in der sozioökonomischen Situation und den Erfahrungen der Patient:innen hervorhebt.

Das zweite Kapitel erörtert den methodischen Ansatz und das Feld der patient:innenzentrierten Geschichte als Quelle für Wissenschaft und der Historiografie. Es ist eine Fundgrube für alle Forschenden auf diesem Gebiet, da hier eine gründliche Zusammenfassung der theoretischen Grundlagen und das Fundament des Buches zu finden ist. Oliver Falk legt an dieser Stelle seine Absicht dar, das gängige historiografische Argument, dass Patient:innen erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Handlungsmacht über ihre Behandlung erhielten, umzuschreiben. Am Beispiel des Diabetes zeigt er, dass dieses Konzept zu kurz greift und die Bedeutung von Ernährungsratgebern und Selbst(ver-)messungsgeräten übersieht, die im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend den Markt für Mediziner:innen und Laien bestimmten. Diabetes-Spezialist:innen nutzten diese leicht verfügbaren Strategien und Diätkonzepte zur Bewältigung der chronischen Krankheit und übergaben die Verantwortung an ihre Patient:innen, ohne ihre Position als alleinige Expert:innen für „bedingte Gesundheit“2, wie Katsch es nannte, aufzugeben.

Die Entdeckung und Einführung des Insulins hatten jedoch eine entscheidende Auswirkung: Durch die umfassende Berichterstattung in den Medien als „Wunder“ wurden die Gesellschaften und die Ärzteschaft für diese oft unbekannte Krankheit sensibilisiert. Begleitet von einem epidemiologischen Paradigmenwechsel zeigten sich Gesundheitsbehörden und Ärzt:innen gleichermaßen besorgt über die stetig steigende Zahl neuer Diabetesfälle. Ein wesentlicher Aspekt bei der Bewertung und Verfolgung der Ergebnisse therapeutischer Maßnahmen wie Diät, Selbstkontrolle, körperliche Übungen und – wo bereits angewendet – Insulin war die Professionalisierung der Falldokumentation. Oliver Falk argumentiert, dass die Ansicht, hier habe sich eine schleichende Entfremdung von Patient:innen und ihren Behandler:innen entwickelt, fehlgeleitet sei. Stattdessen handele es sich um eine Geschichte der Professionalisierung und technisierten Routinen zur Erfassung der Krankenaussage, dokumentiert in möglichst vergleichbaren Variablen. Trotzdem blieben bei Joslin und Katsch, mit aller wissenschaftlichen Absicht der Standardisierung der Therapie, der individuelle Krankheitsverlauf und Bewältigungsstrategie präsent.

In den folgenden Kapiteln beschäftigt sich Falk mit den Problemen der Standardisierung von Insulin und dessen Einheiten sowie deren Auswirkungen auf die Behandlung. Bei der Einbeziehung und Kontrolle der Patient:innen zeigt er auf, dass in den von ihm analysierten Patient:innenbriefen vor allem die Diätetik als große Belastung empfunden wurde – auch aus sozialen Gründen der Marginalisierung (S. 159f.). Aufgrund dieser Schwierigkeiten war Diabetes in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch eine Krankheit, deren Verlauf stark von der sozioökonomischen Situation des Kranken abhing. Mit der stetig steigenden Verfügbarkeit von Insulin wurden auch immer wieder Diskussionen in der medizinischen Profession laut, welche die Kooperation und Überlassung von Verantwortungen wie dem Spritzen an die Patient:innen stark kritisierten. Interessant dabei ist die Argumentation von den Ärzten Ernst Wiechmann und Fritz Koch aus dem Jahr 1929, dass die Befähigung der Patient:innen, sich selbst Insulin zu spritzen, sie anfällig für eine Morphinabhängigkeit machen würde (S. 172).

Im letzten inhaltlichen Kapitel zu Praktiken stellt Oliver Falk Joslins Akte über seinen Patienten Rainsford in den Mittelpunkt. Mit Cartoons und Auszügen aus Briefen zwischen Behandelnden und chronisch Kranken illustriert er den Einschnitt in Habitus und Lebensstil des Betroffenen Rainsford und stellt dessen Adaption sowie selbstkritischen Aussagen dar. Innerhalb dieser Interakten zeigt Falk ferner, wie der Arzt Joslin durch geschickte Gesprächsführung, „follow ups“, und an die Lebenswirklichkeit seines Patienten Rainsford angepasste Anweisungen die damals nicht existenten „informed consent“ und „compliance“ Ziele erreichte. Leider kündigt Falk an, dass er sich mit Urinzuckertests, Ernährung und dem Spritzen von Insulin befassen wird – letzteres hat er aber wohl durch die Praxis des „follow up“ und der Nachsorge ersetzt. Gerne hätte ich gelesen, was er zu den täglichen Mehrfach-Insulininjektionen in seinen Quellen herausgefunden und welche Erkenntnisse er davon gewonnen hat. Haben Ärzt:innen oder Patient:innen das Problem der „Spritzenangst“ angesprochen? Was waren ihre Ideen und Strategien zur Überwindung der anfänglichen oder täglichen Hemmungen gegenüber der Nadel? Die Praktiken und die Etablierung von Routinen und Annehmlichkeiten für Menschen mit chronischen Krankheiten im 20. Jahrhundert bergen weiterhin ein großes Potenzial für zukünftige Projekte.

In diesem Buch zeigt Oliver Falk nicht nur seine hervorragenden schriftstellerischen Fähigkeiten, sondern präsentiert ebenfalls verschiedene Ergebnisse seines Ansatzes, die Vergleichspunkte zu den Forschung-Behandelnden-Kranken-Beziehungen bei anderen lebensverändernden Erkrankungen wie Sucht oder HIV bieten. Aufgrund dieser Tatsachen ist es bedauerlich, dass dieses Buch nicht auf Englisch vorliegt, da es für viele Wissenschaftler weltweit von großem Interesse wäre. Insgesamt hat Oliver Falk eine methodisch solide Studie mit einem frischen und innovativen Ansatz für die Schwierigkeiten vorgelegt, mit denen jeder Forschende konfrontiert ist, der versucht, die komplexen Wechselwirkungen zwischen medizinischer Forschung, Ärzt:innen und Patient:innen zu erfassen, ohne dabei die Erfahrungen von Menschen mit den betreffenden (chronischen) Erkrankungen zu vernachlässigen.

Anmerkungen:
1 Für Patientengeschichte als methodischen Zugang siehe bspw. Roy Porter, The Patient’s View. Doing Medical History from Below, in: Theory and Society 14 (1985) 2, S. 175–198; Eberhard Wolff, Perspektiven der Patientengeschichtsschreibung, in: Nobert Paul / Thomas Schlich (Hrsg.), Medizingeschichte. Aufgaben, Probleme, Perspektiven, Frankfurt am Main 1998, S. 311–334; Philipp Osten (Hrsg.), Patientendokumente. Krankheit in Selbstzeugnissen, Stuttgart 2010.
2 Gerhardt Katsch, Garzer Thesen, in: Klinische Wochenschrift 16 (1937), S. 399–403.

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